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Silvesterkracher

28. Dez 2022

Nicole Giraud

So unterstützen Hundehalter ihre Vierbeiner

Sie suchen Schutz in der Badewanne, kriechen unter niedrigste Betten, verstecken sich zitternd im Gästeklo – jeder zweite Hund verbringt die Silvesternacht in Panik. Das hat eine von der Universität Bern geförderte Studie ergeben. Alle Jahre wieder fragt sich also jedes zweite Frauchen oder Herrchen: Wie kann ich meinem Tier durch die Zeit um Silvester helfen, wenn ich nicht in knallfreie Regionen reisen kann oder will? Nadine Seeger ist zertifizierte Verhaltenstherapeutin für Hunde, betreibt eine Hundeschule sowie eine Hundetagesstätte und arbeitet nach dem von ihr erarbeiteten Konzept PET (Psychologisch Entwickeltes Training).


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Nadine Seeger ist Hundetrainerin aus Passion. Seit rund vier Jahren betreut sie mit ihrem Team rund 30 Hunde am Tag. Die von der Tierärztekammer Schleswig-Holstein zertifizierte Verhaltensberaterin für Hunde kennt die Feinheiten der Rudeldynamik und Hundesprache genau. Ihre besondere Spezialisierung sind Hundeberufe. Sie geht davon aus, dass alle Hunde eine Beschäftigung, einen Beruf brauchen, da ursprünglich Hunde nicht nach dem Aussehen, sondern nach ihren Fähigkeiten gezüchtet wurden. Werden diese Fähigkeiten und der Wunsch, Menschen zu helfen vernachlässigt, können problematische Verhaltensweisen auftreten. Seit 2017 hat Nadine Seeger bereits hunderte Hunde ausgebildet.



Nadine, viel Zeit fehlt nicht mehr, dann knallt es wieder auf den Straßen und viele Hunde reagieren mit Angst. Was können die Besitzerinnen und Besitzer dagegen tun?

Zunächst mal möchte ich klarmachen, dass Angst eine gute, gesunde Reaktion ist, mit der die Natur alle Säugetiere ausgestattet hat, auch uns Menschen. Wenn es plötzlich knallt, erschrecken wir uns, reagieren mit Stresshormonen, wollen fliehen. Wir Menschen haben aber einen großen Vorteil: Wir können einordnen, woher der Knall kommt, ob aus dem Fernseher, von einem Gewitter oder eben von einem Böller. Ein Hund kann das nicht. Seine Panik bleibt. Kann er nicht fliehen, sucht er Schutz. Am besten helfen wir unseren Tieren, in dem wir ihnen möglichst viel Ruhe und Sicherheit bieten. Wir müssen unserem Hund ein starker, verlässlicher Partner sein und dürfen seine Angst nicht noch durch unsere eigene Emotion verstärken.

 

Was heißt das konkret?

Einen stark verängstigten Hund – er zittert und hechelt zum Beispiel stark, will nicht mehr raus, frisst nicht, kommt nicht zu Ruhe – dürfen wir auf keinen Fall allein lassen, sondern sollten ihm ruhig und fest über den ganzen Körper streicheln. Das gilt natürlich nicht nur für Lärm am Silvester, sondern auch bei Gewitter. Sehr beruhigend und entspannend wirkt das Ausstreichen der Ohren. Maul und Ohren von Hunden sind direkt mit dem limbischen System verbunden, das das Hormon Oxytocin ausschüttet, das Stress und Angst mindert. Herzschlag und Atmung verlangsamen sich. Wir können dem Tier außerdem, im wahrsten Sinne des Wortes, Halt geben, ihm mit unserem Körper einen schützenden Rahmen anbieten. Wenn der Hund sich in Stresssituationen nicht gerne halten lässt, kann man ihm mit Körperbandagen oder einem engen Shirt speziell für Hunde helfen. Das bedarf allerdings einer vorherigen Gewöhnung. Das gilt auch für spezielle Ohrstöpsel und Kopfhörer. Und wenn dein Hund sich in der Badewanne am sichersten fühlt, leg ihm seine Decke hinein.

 

Kannst du Beruhigungsmittel empfehlen?

Das Aromaöl Lavendel kann helfen oder auch das künstlich hergestellte Pheromon Adaptil, eine Nachahmung des Duftstoffes, den Weibchen beim Säugen absondern und der auf Welpen beruhigend und besänftigend wirkt. Auch Musik beruhigt, belegt ist vor allem die Wirkung klassischer Klänge. Musik dämpft außerdem die Geräusche von außen – ebenso wie zugezogene Rollos und Vorhänge. Es darf auch gern eine gemütliche Ecke im Keller sein. Und ein Schluck Eierlikör für den Hund.

Wie bitte? Alkohol? Das meinst du doch nicht ernst.

Ängstlichen Tieren etwas Alkohol zur Entspannung zu geben, ist zwar umstritten, aber wirksam. Eierlikör deshalb, weil Hunde es gern süß mögen. Ich selbst habe schon sehr gute Erfahrungen damit gemacht, wenn ich extrem ängstliche Hunde in der Betreuung hatte. Es ist wie beim Menschen: Die Dosis macht das Gift. Für Hunde gibt es sogar eine Formel: Menge (ml) = Gewicht (kg) x Faktor x 100 geteilt durch Alkoholprozent. Bis 25kg ist der Faktor 0,4, bei 26 bis 50kg 0,3 und bei über 50kg 0,2. Der Alkoholgehalt von Eierlikör zum Beispiel liegt bei 20 Prozent.

 

Lass mich kurz rechnen: Einem 15 Kilo schweren Beagle dürfte ich also 30 Milliliter Likör geben, das sind eineinhalb Schnapsgläser voll.

Ganz genau. Am besten nicht auf einmal, sondern über mehrere Stunden verteilt, den letzten Schluck etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht.

 

Wäre es nicht besser, dem Hund ein vom Tierarzt verschriebenes Beruhigungsmittel zu geben?

Davon halte ich gar nichts. Diese Präparate stellen das Tier zwar ruhig – aber sie nehmen ihm die Panik nicht. Das heißt, der Hund spürt die gleiche Angst, ist bei vollem Bewusstsein, kann aber den Stress nicht ausdrücken, weil der Körper lahmgelegt ist. In meinen Augen ist das die reine Folter für das Tier.

 

Etwas überspitzt zusammengefasst sollen Hundehalterinnen und -haltern also, den Jahreswechsel mit ihrem angesäuselten Hund im Arm bei klassischer Musik im Keller zu verbringen? Und das Jahr für Jahr?

Nicht Jahr für Jahr, aber diesmal dürfte sich Silvester für viele noch so oder ähnlich abspielen, ja. Schon im kommenden Jahr könnte Silvester aber mit Freunden und Tanzmusik verbracht werden – wenn man mit dem Hund ab Januar konsequent darauf hinarbeiten. Die Stichworte sind Desensibilisierung und Konditionierung. Die Tiere können im Laufe des Jahres langsam an die für sie so belastenden Geräusche gewöhnt werden und lernen, wie sie aus Stress herauskommen und entspannen können. Für Hundebesitzer mit geräuschängstlichen Tieren sollte ein solches Training für den nächsten Jahreswechsel und das nächste Unwetter ganz oben auf der Liste der guten Vorsätze für 2023 stehen.

Wie funktioniert so eine Desensibilisierung?

Dem Hund wird in kleinen, gut dosierten Einheiten ein Auslöser vorgesetzt. Dazu kann man zum Beispiel eine Geräusche-CD benutzen und mit einem leiseren Knallgeräusch anfangen, das das Tier aushalten kann, ohne in starke Angst zu verfallen. Nach und nach wird der Reiz erhöht, um dadurch den Hund an den Auslöser zu gewöhnen. Oder man baut mit dem Hund eine Übung auf, ein Spiel, das ihm großen Spaß macht. In dieses Spiel fügt man ein angstauslösendes Geräusch ein. Anfangs ganz leise. Der Hund soll das Geräusch zwar wahrnehmen, aber ohne Angst weiter aktiv bleiben. Allmählich lässt man das Geräusch dann immer „näherkommen“. Wenn der Hund Angst zeigt und das Spiel unterbricht, ist man zu weit gegangen. Übrigens sollte auch geprüft werden, ob das Tier auch auf den Brandgeruch reagiert, der mit Feuerwerk verbunden ist. Auch hier kann eine Desensibilisierung nötig sein.

 

Du sprichst auch von Konditionierung. Ist das nicht dasselbe?

Nicht ganz. Bei der Konditionierung geht es darum, dem Tier beizubringen, sich auf ein bestimmtes Signal hin zu entspannen. Das kann bei jeder Art von Angst, zum Beispiel auch vor dem Alleinsein, eine große Hilfe sein. Dazu sollten Hundehalter ein gutes Hundetraining buchen, in dem gemeinsam die richtigen Schritte entwickelt und nach und nach angepasst werden.

 

Kommen wir noch einmal auf den bevorstehenden Jahreswechsel zurück. Auch wenn es knallt, müssen die Tiere ja Gassi gehen. Hast du dazu noch einen Rat?

Grundsätzlich sollte man jeden Hund um die Silvesterfeiertage draußen ohne Ausnahme anleinen. Ängstliche Hund sichert man am besten zusätzlich mit einem Geschirr. Zum Lösen nur kurze und bekannte Strecken gehen, möglichst bei Tageslicht. Der Hund sollte tagsüber ausgelastet werden, damit er müde und ausgeglichen ist. Das kann man auch drinnen mit Schnüffel- und Suchspielen erreichen.

Danke Nadine, wir wünschen dir sowie allen Hundebesitzern und Hunden einen guten Rutsch ins Neue Jahr!