30. Sep 2020
Manfred Schichner
Bilder:
marePublica / Christmann
Wolfswanderung in der Dämmerung im Wildpark

Nach Jahren der Ausrottung durchstreifen heute wieder zahlreiche Wölfe Deutschlands Wälder. Zu Gesicht bekommen sie die Wenigsten. Anders im mecklenburgischen Güstrow, wo ein Wildpark regelmäßig zu Wolfswanderungen in der Dämmerung einlädt.
Werbung

Gerade erst haben die letzten Tagesbesucher das weitläufige Gelände des Wildparks verlassen, als sich eine rund 30-köpfige Traube vor dem charakteristischen Eingangsgebäude versammelt. In der Mitte, leicht erhöht auf einer alten Holzbank, steht Hans-Jürgen Krull. „Nennt mich einfach Krulli!“ – Das Wichtigste stellt der weißbärtige Naturführer gleich zu Beginn klar, um kurz darauf letzte Informationen zur geplanten Wanderung zu geben. „Wir werden heute rund zwei Stunden unterwegs sein, dabei aber nur eine kleine Runde drehen. Mehr würden wir gar nicht schaffen.“ Mehr muss an diesem Abend auch nicht geschafft werden, hat doch der abendliche Rundgang in der Dämmerung ein ganz besonderes Ziel. Es geht zur Hauptattraktion des 200 Hektar großen Parks, der inmitten einer leicht hügeligen Waldlandschaft ein Rudel aus zehn Wölfen beheimatet.

In der zunehmenden Dunkelheit geht es einen Hügel entlang, vorbei an einem weißfelligen Damwild, dessen Augen im Lichtkegel von Krullis Taschenlampe fast schon etwas unheimlich reflektieren. „Das Damwild sieht aus wie ein Reh. Ist aber keins. Anders als Rehe sind die Tiere bei uns eigentlich gar nicht heimisch. Sie stammen aus Mesopotamien und wurden vor Tausenden von Jahren von den Phöniziern mit nach Europa gebracht“, berichtet Krull, kurz bevor ein weiteres Metalltor die Safarigänger zum Gehege der Braunbären Fred und Frode leitet.
Dann geht es plötzlich ganz schnell. Während Krull noch ein Modell zur Veranschaulichung eines Bärengebisses hervorholt, rufen die ersten: „Da oben! Da oben ist einer!“ Gemeint ist nicht Fred. Auch nicht Frode. Gute Hundert Meter entfernt harrt still und heimlich ein Wolf aus. Gut getarnt zwischen dichtem Gestrüpp und dank der Dämmerung. Wie angewurzelt steht er da und beobachtet das Treiben der Gruppe. „Der weiß, dass es gleich Futter gibt“, erklärt Hans-Jürgen Krull schmunzelnd. Nicht ohne im gleichem Atemzug Vorfreude zu wecken: „Ich verspreche euch, dass ihr sie gleich noch näher, viel näher sehen könnt.“

Krulli sollte Recht behalten. Nach weiteren fünf Minuten Fußmarsch, der durch unterirdische Tunnel und über schmale Hängebrücken führt, sind im schwachen Licht einer Wegebeleuchtung die Umrisse mehrerer Wölfe zu erkennen. Während die wilden Parkbewohner immer unruhiger werden, holt der Wolfskenner schnell ein paar Eimer mit Fleischhappen aus einem kleinen Holzverschlag gleich gegenüber dem Gehege. Dann warnt er die Teilnehmer der Tour vor: „Wenn wir jetzt dahin gehen und die Wölfe füttern, seid euch bitte bewusst, dass es zu Rangeleien unter den Tieren kommen kann. Die soziale Struktur und die Hierarchien sind hier viel ausgeprägter als in der freien Wildbahn.“ Was damit gemeint ist, wird klar, als Hans-Jürgen Krull von einer Brücke über den Köpfen der Wölfe erste Fleischstücke in die fauchende Meute wirft.

Nachdem die letzten Leckerbissen im Taschenlampenlicht von den Wölfen verschlungen worden sind, geht es wieder auf festere Pfade. Bei einem letzten Halt an der Wolfshütte des Wildparks stellt der Fachmann klar, dass trotz der scheinbaren Aggressivität und ihres schlechten Rufs Wölfe berechnend seien – und dadurch äußerst berechenbar: „So ein Wolf tickt ganz einfach. Der sagt sich: Was wegrennt ist lecker. Was schnell wegrennt ist besonders lecker. Damit fiele der Mensch maximal in Kategorie Eins. Wenn ich nun vor einem Wolf stehe und nicht weglaufe, passiert auch nichts. Also bleibe ich ruhig. Ganz klar.“ Probleme gäbe es erst dann, wenn der Mensch anfinge, Wölfe zu füttern und damit eine Abhängigkeit herstellen würde. „Dann kommen sie immer wieder und fangen an die Menschen zu bedrängen. Und ruckzuck ist man Kategorie Eins.“